„Er wollte sehen, ob ich mich erschrecke“

Snooker Referee Maike Kesseler aus Mammendorf bei München ist die deutsche Snooker Vorzeige-Schiedsrichterin. Ihre Fußball-Kollegin Bibiana Steinhaus ist bekanntlich nun in der Bundesliga angekommen, doch über diesen Punkt ist die 35-jährige längst hinaus. Im April feierte sie ihr Debüt bei den Weltmeisterschaften im altehrwürdigen Crucible Theatre in Sheffield. Dort hatten wir die Gelegenheit zu einem Interview mit ihr, das Interview führte Diana Schuler für die Touch.

Maike, du bist erst die dritte Frau, die bei der WM im Curcible schiedsen darf. Wie war das, als du die Nachricht erhieltest?

Kesseler: Ich hatte Tränen in den Augen. Es ist einfach das Größte und das, worauf jeder Schiedsrichter hinarbeitet. Wie sagt man so schön: „wenn Träume wahr werden“. Die Nachricht musste ich mehrfach lesen, weil ich es einfach nicht glauben konnte. Den Moment kann man nicht beschreiben.

Kam das ganz überraschend oder hatte sich das schon länger angebahnt?

Kesseler: Wir erhalten vorab für die einzelnen Turniere Anfragen, ob wir hierfür Zeit haben. Für die Qualifiers bekam ich eine konkrete Anfrage. Für das Hauptevent war lediglich ein Fragezeichen vermerkt. Natürlich habe ich sofort geantwortet: „Wenn ihr mich braucht, ich bin da.“ Ich erhielt dann relativ früh die Rückmeldung, dass sie mich nehmen wollen und dass ich die WM schiedsen darf.

Wie war das Gefühl, als du zum ersten Mal in die Arena gelaufen bist?

Kesseler: In der Früh war ich total nervös, weil ich realisierte: „Heute ist es soweit. Heute darf ich das erste Mal da raus gehen.“ Aber als ich dann hinter dem Vorhang stand und Rob Walker die Schiedsrichter ansagte, war ich relativ relaxt. Ich habe mich einfach nur gefreut. Das einzige, woran ich dann nur noch gedacht habe war: „Fall jetzt bloß nicht die Stufen runter.“ Und als die Zuschauer dann applaudiert haben, war es einfach nur super.

Das ist doch auch viel enger als bei anderen Turnieren? Die Kameraleute sind so nah…

Kesseler: Ich durfte mein erstes Match direkt auf Tisch 1 schiedsen. Hier arbeiten drei Kameraleute auf einer Fläche, wo sonst ein bis maximal zwei platziert sind. Zwischen ihnen am schwarzen Spot ist es sehr eng. Manchmal stehen sie sich sogar selbst im Weg. Mir ist während eines Matches einer fast mit der Kamera über den Fuß gefahren. Etwas mehr Platz ist an den Seiten. Aber auch hier muss man zusehen, dass man schnell auf seiner Position steht, da man hinter dem Spieler nicht einfach langgehen kann. Dafür ist es einfach zu eng.

Wie lange hat es gedauert von den Anfängen deiner Karriere bis zu diesem Höhepunkt?

Kesseler: 2007 habe ich meinen allerersten Regelkundekurs gemacht. Damals habe ich noch selbst gespielt und mir ging es darum, mehr Regelsicherheit zu bekommen. Mir war nämlich aufgefallen, dass ich große Regellücken hatte. Und als dann in Bielefeld ein Kurs angeboten wurde, habe ich mir gesagt: „Das kann nicht schaden.“ Mit der Zeit hat sich herausgestellt, dass mir das Schiedsen mehr liegt als das Spielen, da ich auch zu wenig Zeit zum Trainieren hatte. Bei den PHC in Fürth 2010 war dann mein erster Einsatz für World Snooker. Das ist jetzt sieben Jahre her. Damals hätte ich nie gedacht, dass ich irgendwann mal bei der WM in Sheffield schiedsen würde.

Du hast im Jahr 2016 auch das Finale des German Masters geleitet, was sicher auch ein grandioses Erlebnis war.

Kesseler: Ein Finale im eigenen Land leiten zu dürfen, ist einfach sensationell. In Berlin, im Tempodrom mit 2.500 Zuschauern und nur einem Tisch, davon schwärmt jeder. Alle Spieler, die diese Atmosphäre schon mal erleben durften, sagen, dass das Tempodrom nach der WM der beste Spielort mit dem besten Publikum ist. Die Zuschauer unterstützen einfach jeden Spieler, egal ob Topfavorit, Rookie oder Außenseiter. Das ist auch der Grund, warum die Spieler das Turnier so sehr lieben.

Welche Tipps gibst du Leuten, die mit dem Schiedsen anfangen möchten?

Kesseler: Die erste Anlaufstelle ist der nächstgelegene Verein. Hier gibt es in der Regel einen Ansprechpartner. Dort kann man dann in Ruhe reinschnuppern und bei Trainingsspielen mal die Kugeln aufsetzen. So fängt man meistens an und dann entwickelt sich alles. Erster Regelkundekurs, usw. Das Schiedsen sieht sehr einfach aus, gerade bei den erfahrenen Schiedsrichtern. Aber es bedarf ein hohes Maß an Konzentration und viel Übung.

Irgendwann geht es dann auf Landesebene und national weiter?

Kesseler: Richtig. Nach einer gewissen Zeit kommt der Landesschiedsrichterobmann (LSO) auf einen zu und lädt zu den Bezirksmeisterschaften oder Landesmeisterschaften ein. Das sind die nächsten Schritte. Wenn der eigene Verein z.B. in der Bundesliga spielt, kann man dort ebenfalls an den Spieltagen ein oder zwei Matches schiedsen. So habe ich damals in Landsberg auch angefangen. Man kann viel Erfahrung sammeln und findet so heraus, ob man es wirklich mag. Im Fernsehen sieht es ja immer so einfach aus. Die Amateure spielen jedoch auf einem anderen Niveau. Daher dauern die Spiele durchaus auch mal länger. Wenn einem das Schiedsen dann trotzdem Spaß macht, bleibt man auch dabei und macht weiter. Und wenn der LSO die Rückmeldung bekommt, dass man mit Begeisterung dabei ist und einen guten Job macht, wird man zu den nächst höheren Veranstaltungen, wie z.B. der Deutschen Meisterschaft, eingeladen und macht dort seine nächsten Prüfungen. Erst die Nationale, dann die Internationale.

Man braucht auch sehr viel Urlaub. Wenngleich du professionelle Schiedsrichterin bist, hast du einen normalen Job?

Kesseler: Ja, ich bin in Vollzeit bei einer Bank als Kundenberaterin angestellt. Ich nutze eigentlich meinen gesamten Urlaub für Snooker. Mein Chef und mein Arbeitgeber unterstützen mich da sehr. Sie haben mir auf Anfrage für diese Saison einige zusätzliche Tage unbezahlten Urlaub genehmigt, damit ich die Möglichkeit habe auch an längeren Turnieren teilnehmen zu können. Voraussetzung ist natürlich, dass meine Arbeit darunter nicht leidet. Diese Unterstützung ist heutzutage nicht selbstverständlich, gerade bei einem Randsport wie Snooker.

Und die gucken bestimmt auch Eurosport und schauen, was die Mitarbeiterin so treibt.

Kesseler: Einige Kollegen wissen natürlich was ich mache und schauen Snooker sehr aktiv. Die sagen dann: „Ich habe dich im Fernsehen gesehen!“ Aber es weiß definitiv nicht jeder und ich hänge es auch nicht an die große Glocke. Natürlich wissen meine direkten Kollegen aus meiner Filiale Bescheid. Diese fragen dann auch meist nach: „Wann bist du denn wieder zu sehen?“ Aber die meisten haben von Snooker noch nie etwas gehört und interessieren sich auch nicht dafür, was ich ihnen nicht übel nehme.

Gibt es Situationen, vor denen du dich beim Spiel fürchtest? So etwas wie betrunkene Fans oder Mobiltelefone?

Kesseler: Alles, was mit den Zuschauern zu tun hat, sehe ich relativ relaxt. Das sind schließlich diejenigen, die die Tickets zahlen und somit für den Sport sehr, sehr wichtig sind. Natürlich ist es ärgerlich, wenn ein Handy klingelt und der Spieler gerade im Stoß ist. Aber ich glaube, dass das niemand mit Absicht macht, sondern dass einfach nur vergessen wurde, es auszuschalten. Wir haben auf den meisten Events auch sehr gute Security. Wenn wirklich jemand unangenehm auffällt, werden sie tätig und begleiten denjenigen hinaus. Aber das sind keine Situationen, vor denen ich Angst habe.

Was sich kein Schiedsrichter wünscht, was aber immer mal passieren kann, ist ein Blackout am Tisch. Der eine Spieler hat einen Snooker gelegt und du schaust ihn dir sehr gut aus allen Positionen an. Dann sagt sein Gegner: „Bitte zurücklegen“ und das Bild in deinem Kopf ist einfach weg. Da muss man eben die Spieler um ihre Hilfe bitten und die Bälle zusammen zurücklegen.

Im Crucible gibt es das „Hawkeye“, wo man sieht, wo die Kugeln vorher lagen und es ein Signal gibt, wenn sie korrekt zurückgelegt wurden.

Kesseler: Stimmt. Das soll uns helfen und Sicherheit geben. Wobei die Schiedsrichter, die im Crucible arbeiten, so gut sind, dass sie es auch ohne diese technische Hilfe zurücklegen können. Das System gibt jedoch auch den Spielern mehr Sicherheit, da sie die ursprüngliche Position der Bälle direkt an einem großen Bildschirm überprüfen können. Manche nutzen diese Möglichkeit gern, andere bleiben aber auch auf ihrem Stuhl sitzen und lassen den Schiedsrichter zusammen mit seinem Marker das Zurücklegen erledigen.

Und es geht auch schneller.

Kesseler: Ja, erst recht, wenn sich mehrere Kugeln bewegt haben. Dann ist man mit dem System einfach wesentlich schneller und hat keine langen Diskussionen.

Hast du schon irgendwelche besonderen Momente am Tisch erlebt?

Kesseler: Ja, bei den Qualifiers gab es eine nette Anekdote mit Mark Williams. Er hatte Pink gelocht, aber der Pink-Spot war nicht verfügbar und es war auch kein anderer Spot frei. Eine Rote lag direkt über dem Pink-Spot und eine darunter. Zwischen diesen zwei Roten war gerade genug Platz, dass Pink da hinein passte. Und so musste ich die Pinke mit sehr gespreizten Fingern umständlich in die Lücke hineinbauen.

Mark hat mein Problem natürlich gesehen und hat die Linie der Kugeln anschließend sehr genau überprüft. Danach fragte er mit einem Grinsen: „Meinst Du nicht, dass Pink noch leicht nach rechts muss?“ Ich dachte mir, okay, wenn er meint… und habe die Pinke eine winzige Kleinigkeit mit der Faust weiter nach rechts geschoben. In diesem Moment hat er direkt neben mir mit dem Fuß auf den Boden gestampft. Er wollte wohl sehen, ob ich mich erschrecke. Ich habe jedoch keine Miene verzogen, die Korrektur beendet und gefragt, ob er jetzt mit der Position einverstanden sei. Er meinte: „Ja ja, passt schon.“

Wahrscheinlich wollte er sich einen Spaß erlauben und mich auf die Probe stellen. Anschließend stand er da, hat mit den Schultern gezuckt und gegrinst. Schade, hat leider nicht funktioniert. Und so etwas passiert bei den WM-Qualifiers in der letzte Runde. Also der Runde, die für den Einzug ins Crucible entscheidend ist. Das gibt es immer mal wieder.

Hast du einen Lieblingsspieler zum  Schiedsen?

Kesseler: Nein, eigentlich nicht. Es gibt einige, da weiß man, dass man seine „Laufschuhe“ anziehen muss, da sie sehr schnell spielen, wie z.B. ein Ronnie O’Sullivan oder Mark Allen. Und es gibt die Spieler, die etwas langsamer spielen. Dann gibt es Spieler, die sehr zuvorkommend sind und sich immer für alles beim Schiedsrichter bedanken, also richtige Gentleman.

Unter den Spielern gibt es eben viele unterschiedliche Charaktere und ich kann da niemanden besonders hervorheben. Ich freue mich einfach auf jedes einzelne Match, welches ich leiten darf. Hey, das hier ist die WM!

Dein bisheriger Karriere-Höhepunkt war das Finale des German Masters. Hat das Crucible diesen jetzt abgelöst?

Kesseler: Man kann das schlecht vergleichen. Es ist emotional ganz unterschiedlich. Das erste Maintour-Finale ist ein Höhepunkt, den jeder Schiedsrichter genießt und immer wieder erwähnen wird. Und in Berlin vor 2.500 Zuschauern, vor dem eigenen Publikum, war für mich schlicht unbeschreiblich. Und die WM ist das Ziel, auf das jeder Schiedsrichter hinarbeitet. Einmal im Crucible stehen zu dürfen, ist einfach ein Traum. Die Zuschauer haben mir einen so tollen Empfang bereitet. Ich hatte den Eindruck, dass sie sich sehr freuen, dass endlich mal wieder eine Frau bei der WM mit dabei ist. Ich kann und möchte auch beide Ereignisse nicht mit einander vergleich. Daher habe ich jetzt zwei Karriere-Höhepunkte.

Vielen Dank für ausführliche Interview, Maike.

Kesseler: Sehr, sehr gerne.